Erfurt: Leben auf dem Pulverfass - Garantie und Disposition
Beitrag von Oliver Ziegenhardt, Architekturkritiker, Erfurt
Am Abend des 08.09.2005 fanden sich im Ratssitzungssaal des ehrwürdigen Erfurter Rathauses um 18.00 Uhr zirka 100 Menschen zu einer BürgerInnenversammlung ein.
Eigentlich war es bestes Biergartenwetter, drinnen allerdings drückend und heiß, und es sollte später noch heißer zugehen. Denn Vertreter der Stadt stellten an diesem Abend den Masterplan II zum Stadtumbau Erfurts, genauer seiner Plattenbaugebiete, einer interessierten und erwartungsvollen Öffentlichkeit vor.
Baureferent Winfried Kiermeier, flankiert sowohl von Vertretern des Stadtplanungs- und Stadtentwicklungsamtes wie auch der Wohnungsbaugesellschaften als Planungsträger und Vermieter, eröffnete die BürgerInnenversammlung und machte die Gekommenen mit dem Masterplan II bekannt, Planungen für den Umbau der Erfurter Großwohnsiedlungen wie Roter Berg, Moskauer Platz oder Rieth bis ins Jahr 2020.
Diese Planung, so Kiermeier, sei „für und mit den Menschen zu entwickeln“, daher sei „die betroffene Öffentlichkeit zu informieren, eine Diskussion anzuregen und vor allem Bürgerbeteiligung“ gefragt. Der Referent verwies auf den Masterplan I aus dem Jahr 2001, der die Anpassung der zu ertüchtigenden Gebiete an ökonomische und stadtstrukturelle Entwicklungen wie den Einwohnerrückgang bereits vordachte. Die Verpflichtungen aus dem Masterplan I seien abgearbeitet, rund 4500 Wohnungen leergezogen und der Rückbau in vollem Gange. Der Masterplan II setze auf Langfristigkeit: die Zielfunktion sei die Belegung der Gebäude im Planungsjahr 2020 sowie die Sicherstellung einer Berechenbarkeit für alle Beteiligten. Angegliedert seien zweijährig zu erstellende Pläne für die konkreten Maßnahmen.
Als erster Referent an diesem Abend wies Statistikamtsleiter Eberhard Schubert darauf hin, seriöse Planung sei ohne Datengrundlage nicht zu machen. Er erläuterte Grafiken zum Anteil der Bevölkerung in den drei Siedlungsstrukturtypen. Daraus ging hervor, dass der städtische Typus über die Zeit relativ konstant geblieben ist, der Platten-Typus (Großwohnsiedlung) stark gesunken und der dörfliche Typus stark gestiegen (Einfamilienhäuser auf der grünen Wiese). Zwischen der Platte und dem dörflichen Typus fand ein reger Austausch statt, und 2004 gab es auch Gewinne im städtischen Bereich. So lebten Anfang der 1990er Jahre noch ca. 40 % der Erfurter in den Plattenbaugebieten, 2004 sind es nur mehr 21 %.
Viele Plattenstadtteile seien noch geprägt von der Erstbezugsgeneration. In den nächsten 15 Jahre wären nur moderate Verluste zu erwarten; die Entwicklung bleibt relativ konstant, wobei allerdings die Plattengebiete am meisten verlieren.
Der zweite Referent, Paul Börsch vom Amt für Baukoordinierung und Stadterneuerung, erklärte den eigentlichen Masterplan II, der die bis 2020 zu festigenden Quartiere in drei Gebietstypen unterteilt: in Garantiegebiete (zu erhaltende Kerngebiete, Förderung von Wohnungsbau und Wohnumfeldgestaltung, keine Rückbauförderung), Dispositionsgebiete (vor-wiegend un- und teilsanierte Objekte, unsichere Entwicklungsprognose, keine Wohnungsbauförderung) und Entwicklungsgebiete (bereits zurückgebaut, Potentiale für Zwischen- und Nachnutzung). Allerdings, so Börsch, bestünde die Möglichkeit der Qualifizierung eines Dispositionsobjektes zu einem Garantieobjekt durch eine positive Mietentwicklung. Doch auch in den Garantiegebieten ist längst nicht alles eitel Wonne, bedeutet der Status doch, daß dort in den nächsten zwei Jahren nichts passieren und ein beispielsweise von der Mietlage her gutes, aber von der Substanz hser bedenkliches Gebäude nicht angerührt werden wird.
Stadtplaner und Entwurfsverfasser Uwe Wilke, dritter Referent, stellte die Ergebnisse für jeden Stadtteil einzeln vor, zunächst das Leitbild, dann die Strategie. Der Masterplan II versuche, die Garantiegebiete für 2020 als Wohnquartiere bekannt zu machen und kläre nicht nur die Frage des Abrisses. Wilke gab sich bedenklich: auch die Planer hätten dazulernen müssen; Stadtumbau Ost zöge Stadtumbau West nach sich, auch im Westen gäbe es Rückbau. Eine Indikation für den Abschwung West? Die Strategien für die Planungsgebiete waren sich im wesentlichen ähnlich: Orientierung an den vorwiegend fünfgeschossigen Bauten, weitgehender Rückbau der Elf- und Sechzehngeschosser, Schaffung einer jeweiligen „grünen Mitte“, mithin „Rückgrat“ als wohnliches Szenario.
All diese Ausführungen, lassen das Fazit zu, über etwa einem Viertel der besprochenen Wohnungen schwebe das Damoklesschwert in Form einer imaginären Abrissbirne, wurden dann dem Publikum zur Diskussion gestellt, die Baureferent Kiermeier weitgehend allein bestritt. Hier artikulierte sich vor allem das Unverständnis über den Rückbau einiger Gebiete im Gegensatz zur empfundenen Bevorzugung anderer, wobei ein gewisser Lokalpatriotismus der Anwesenden für ihr spezielles Gebiet sowie wenig Verständnis für die Gesamtsituation deutlich wurde. Kiermeier sagte, Gebäude mit schon 10 % Leerstand seien nicht mehr wirtschaftlich, und es würden vorwiegend unsanierte Gebäude vom Markt genommen, die lediglich mit Altschulden belastet wären.
Häufig erklang der heftige Vorwurf des vorsätzlichen Herunterwirtschaftens durch die Wohnungsgesellschaften, um eine Entmietung voranzutreiben, damit die Marktfähigkeit zu steuern und so eine seriöse Bewertung unmöglich zu machen, und auch der Hinweis auf das städtische Umzugsmanagement und gewisse Beihilfen stimmten die BürgerInnen nicht milder. Des weiteren wurden unterschiedliche Auffassungen über den Begriff der „Instandhaltung“ deutlich; es sei „kein Geld da“, weil ja durch den hohen Leerstand auch nicht „ordentlich gewirtschaftet werden kann“. Als großes Problem stellten sich auch die „Dispositionsgebiete“ heraus, die ein Leben auf dem Pulverfass bedeuten würde. Denn wie ernst zu nehmen sei eigentlich die auch von Kiermeier genährte Hoffnung, zum Garantiegebiet aufzusteigen, bei dem auch unklar blieb, wie viel Prozent eigentlich erfüllt sein müssen, damit der Status stimmt? „Wir werden verschaukelt!“, rief ein aufgebrachter Bürger, worauf sich Kiermeier energisch, aber eher hilflos dagegen verwahrte, die Grundstücke würden von den Unternehmen in Spekulation auf die Nachnutzung verwaltet und betonte, ökonomische Nutzungen stünden außen vor, außerdem sei kein aktives Eingreifen in die Wohnsituation geplant.
Letztlich wurde deutlich, dass in einer mehrjährigen Zitterpartie mit nur zweijährlichen verbindlichen Zusagen, den mageren Auskünften über die Instandhaltung selbst von nachgefragten, aber sanierungsbedürftigen Objekten, den eher unklaren Aussagen über den Sinn der omnipräsenten „grünen Mitte“, den zu ausführlichen statistischen und strategischen Erläuterungen, den Bürgern nicht ihre Ängste zu ihrer Wohnzukunft in den 3 Bürgerforen genommen werden konnten. Gefordert sei ein kontinuierlicher und offener Dialog zwischen der Stadtverwaltung, der Wohnungsgesellschaft, den Genossenschaften, den Architekten und Planern, mit den Bürgern Erfurts.