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Auswirkungen des wirtschaftlichen Strukturwandels

Auszug Dissertation Dipl.-Ing. Christian Huck, Weimar

Der wirtschaftliche Strukturwandel in Thüringen und seine Auswirkungen auf die Raumordnung und Satdtentwicklung - dargestellt an der Entwicklung des Einzelhandels von 1989 bis 1999 mit Schlussfolgerungen für eine zukünftige aktive Raumordnungs- und Stadtentwicklungspolitik für Thüringen

Vorgelegt von: Dipl.-Ing. Christian Huck, Weimar
Gutachter

  • Professor Dr. sc. nat. Gerold Kind, Bauhaus-Universität Weimar
  • Professor Dr. Michael Krautzberger, Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Berlin
  • Professor Dr. Arnold Klotz, Stadtplanungsamt Wien
Tag der Disputation: 20. 04. 2001
Weimar, im Dezember 2000

Thesen


1. Im Zuge des wirtschaftlichen Transformationsprozesses in den Neuen Bundesländern als auch in Thüringen hat die Entwicklung des Einzelhandels wie kein anderer Wirtschaftszweig Raumstruktur und Stadtstrukturen tiefgreifend verändert. Eine permanente Suburbanisierung hat zu einer Stadtentwicklung nicht mehr in, sondern zwischen den Städten geführt. Ergebnis ist eine Dezentralität der Zentralität.

Analyseergebnisse der Standort- und Flächenentwicklung des Einzelhandels in Thüringen sind:
  • Eine Handelsstruktur mit einem 73 %igen Anteil an großflächigem Einzelhandel an peripheren Standorten.
  • Ein Landschaftsverbrauch von ca. 4,6 Millionen qm Landschaft.
  • Ein Gesamthandelsbesatz von ca. 3,75 Mio. qm Verkaufsfläche 1998 (Entspricht 1,5 qm Verkaufsfläche je Einwohner; Im Vergleich der Alten Länder: 1,31 qm).
  • Eine weitere Präferenz der peripheren Handelsstruktur durch Verdopplung des Motorisierungsgrades seit 1989 in den Neuen Ländern.
2. Die rein wettbewerbsgesteuerte Handelsentwicklung in den Neuen Bundesländern hat im Vergleich zu den Alten Bundesländern zu einem höheren Konzentrationsgrad der Flächen und Unternehmen und zu einer stärkeren Filialisierung mit eingeschränktem Betriebsformenmix geführt. Ergebnis ist ein Übergewicht des sekundären Handelsnetzes an peripheren Standorten.

Analyseergebnisse zur Netz- und Unternehmensstruktur des Handels in Thüringen sind:
  • Eine Ausdünnung des innerörtlichen primären Handelsnetzes und demgegenüber ein Überbesatz des sekundären außerörtlichen Handelsnetzes und ein Anwachsen des Versand- und Direktvertriebsnetzes in den ländlichen Regionen.
  • Eine Majorität von großflächigen peripheren, preisaggressiven Betreiberkonzepten mit einer rückläufigen Unternehmens- und Beschäftigtenanzahl.
3. Die nur sporadische Einflussnahme der Raumordnung in der Prozesssteuerung zur Standortansiedlung des Einzelhandels führte zu einer Schwächung der zentralen Orte bei Vernachlässigung des primären Handelsnetzes. Die Zentralität der Orte wurde durch die standörtliche Suburbanisierung des Handels, also durch deren Dezentralität unterlaufen.

Die Einflussnahme der Raumordnung war nur sehr begrenzt, weil
  • die Grundziele der Raumordnung zwar mit Wirksamwerden des Thüringer Landesplanungsgesetzes vom 17. Juli 1991 in Thüringen gesetzlich verankert, die Ziele einer ausgewogenen Handelsstrukturentwicklung in ihren Grundzügen aber erst im Landesentwicklungsprogramm von 1993 fixiert wurden.
  • in einem "gesetzlosen" Zeitraum zwischen bereits legitimierten kommunalen Institutionen und noch nicht gewählter und arbeitsfähiger Landesregierung übermäßig viele periphere Handelsstandorte durch bereits funktionierende Landratsämter genehmigt wurden.
  • die Umlandgemeinden der großen Städte durch die absolute Gewährung der Planungshoheit zu den Verursachern dieser unausgewogenen Handelslandschaften geworden sind.
  • trotz Beeinflussung auch von Seiten des Verfassers zwar das größte periphere Einkaufszentrum Thüringens (71.850 qm Verkaufsfläche) in Erfurt-Egstedt verhindert werden konnte, aber zu diesem Zeitpunkt bereits eine lawinenartige Entwicklung auf den Weg gebracht wurde, die durch raumordnerische Einflussnahme nicht mehr aufzuhalten war. Untersuchungsergebnis ist, dass auch weiterhin
  • politische Einzelfallentscheidungen ohne wissentliche Einbeziehung der Raumordnung eine ausgewogene Handelsstruktur in Thüringen verhindern.
  • die innerstädtischen Standortentwicklungen auch weiterhin durch Verzerrung der Wettbe-werbsbedingungen (z. B. Stellplatzsatzungen) behindert werden.
4. Die Verzögerung des wirtschaftlichen Transformationsprozesses in den Neuen Bundesländern führt zu weiteren Differenzierungen in der Kaufkraft und im Kaufverhalten und damit zu weiteren Disparitäten in die Handelsstruktur, die wiederum eine weitere Schwächung des primären Handelsnetzes zur Folge haben und eine kompakte Stadtentwicklung maßgeblich behindern.
  • Die durchschnittliche Kaufkraft erreichte 1998 in den Neuen Ländern 73,3 % des altbundesdeutschen Durchschnitts (Brandenburg: 73 %, Thüringen: 72,5 %; Im Vergleich der Alten Bundesländer: Hamburg mit 110 %, Hessen mit 102,9 %, Saarland mit 87 %).
  • Die Kaufkraft wird weiterhin determiniert durch eine Wirtschaftskraft von ca. 60 % und eine Produktivität von ca. 59 % im Vergleich zu den Alten Ländern.
Ergebnisanalyse zur Kaufkraft und Handelsstruktur aller thüringer Städte ist:
  • Die Kaufkraft entwickelt sich proportional zu Wirtschaftskraft und Arbeitsplatzangebot (1999: Jena mit 91,5; Erfurt und Weimar mit 83,5).
  • Die Handelszentralität wird bestimmt durch Handelsmagnetfunktionen in den Zentren, attraktivem Angebotsmix von Handelsflächen mit hoher Innenstadtrelevanz, Freizeit, Dienstleistungen, kulturellen Einrichtungen und dem Kaufkraftzufluss aus der Region.
  • das Ansiedlungsinteresse des Handels korreliert signifikant positiv mit der Zentralität und dem Mietpreis während das Potenzial für Kaufkraftbindung vornehmlich durch anspruchsvolle Kaufumgebungskonzepte bestimmt wird.
5. Der Wertewandel in Deutschland mit dem Trend zur Freizeitgesellschaft hat mittel- bis langfristige Auswirkungen auf das Kaufverhalten. Der Erlebniskonsum wächst schneller als der Versorgungskonsum. Die nach wie vor unterschiedlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Alten und Neuen Bundesländern bewirken wiederum eine weitere Stärkung das sekundären Handelsnetzes in den Neuen Bundesländern.
  • Die alte Dualität zwischen Freizeit und Arbeit löst sich immer mehr auf.
  • Die Gestaltung der Freizeit wird nach Konsum und Wohnen verstärkt zum herausragenden Statussymbol.
  • Eine stärkere Freizeit- und Erlebnisorientierung zeigt sich als Folge der Flucht vor dem Alltagsstress.
  • Sozio-demographische und sozio-ökonomische Entwicklungen führen weiterhin zur Ausgabenverringerung im Einzelhandel. Das Kaufkraftpotenzial wird nur noch zu einem Drittel im stationären Einzelhandel wirksam.
  • Die zunehmende Motorisierung und Mobilitätsbereitschaft führt zu einer Bevorzugung von peripheren großflächigen Einzelhandelsunternehmen.
  • Das Kaufverhalten in den Neuen Ländern unterscheidet sich nach wie vor erheblich von dem in Westdeutschland - wegen der geringeren Kaufkraft wird verstärkt auf den preisbewussten Einkauf orientiert.
  • Mit einem Bevölkerungsrückgang und der geringeren Kaufkraft in den Neuen Ländern entsteht nur zögerlich eine ausgewogenen Handelsstruktur.
  • Mittel- bis Hochpreisanbieter des Einzelhandels, die in innerstädtischen Lagen der Alten Länder eine Bereicherung darstellen, fehlen in den Neuen Ländern. Damit ist bisher nur Einfalt statt Vielfalt entstanden.
6. Die Einzelhandelsunternehmen versuchen durch Konzentration, wachsende Internationalisierung, Differenzierung, Spezialisierung, Verschärfung des Wettbewerbes durch Preiskampf und Verkaufsflächenzuwachs, Substituierung von Arbeitskräften durch Verkaufsfläche und weiteres Wachstum von Betriebsformen in preisaggressiven Segmenten ihre Marktpositionen zu festigen. Ergebnis ist wiederum eine weitere Stärkung des sekundären Handelsnetzes mit einer Schwächung der Zentralität der Orte.
  • Die dynamische Entwicklung von großflächigen Betriebsformen des Einzelhandels, wie
    Selbstbedienungs- und Verbrauchermärkten in den 70iger Jahren,
    Fachmärkten mit Beginn der 80iger Jahre,
    Shopping Center Mitte der 80iger Jahre,
    Urban Entertainment Center Mitte der 90iger Jahre und Factory Outlet Center Ende der 90iger Jahre zielt auf Kostenreduzierung durch Kostenverlagerung auf den Kunden (Abbau von Verkaufs- und Produktberatung) und auf die Allgemeinheit (Externalisierung von Transport- und Umweltkosten).
  • In der räumlichen Angebotsstruktur führt das zu einem Rückzug des Handels aus der Fläche (Orientierung aus wirtschaftlichen Gründen auf Großflächen und verkehrsorientierte Standorte), zu einer zunehmenden Standortverlagerung in das Umland (Verlust der wohnungsnahen Versorgung immobiler Käufergruppen), zu einem Anwachsen des sekundären Handelsnetzes und damit zu einer Schwächung der Zentralität der Orte.
  • Neue Handelsangebotsformen, wie das mediale Handelsnetz E-Commerce werden mittel- und langfristig Umsatzanteile erlangen und Einzelhandelsflächen hauptsächlich aber im sekundären Handelsnetzbereich freisetzen.
7. Spezielle Einzelhandelsbetriebsformen ermöglichen eine Stärkung des primären Handelsnetzes bei gezielter Standortansiedlung in den Städten.
  • Die Angebotsseite im Handelsflächenmietmarkt hat sich durch ein Überangebot an Handelsflächen im peripheren Bereich so verändert, dass die zu zahlenden Mietpreise für die Zentrumslagen erheblich gefallen sind. Damit sind die wirtschaftlichen Bedingungen für die Anmietung größerer innerstädtischer Flächen verbessert. Für die Revitalisierung der Innenstädte sind damit günstige Ausgangspositionen gegeben.
  • Urban Entertainment Center (UEC) als neue Standort- und Betriebsform in Verknüpfung von Freizeit- und Einzelhandelsnutzung generieren Kunden- und damit auch Kaufströme in die Städte hinein und befördern damit die Revitalisierung der Städte. Für die Neuen Länder ist dies eine der wenigen Möglichkeiten, Kaufkraft und Kundenströme wieder in die Städte zurückzubringen.
8. Die Zentralität der Städte ist durch die Zentralität des Handels zurückzugewinnen. Eine gezielte Steuerung im Rahmen von Raumordnung und Stadtentwicklung kann diesen Prozess erfolgreich begleiten.
  • Die räumliche Planung ist einem wachsenden wirtschaftlichen Druck ausgesetzt, der wegen der anhaltenden Individualisierung der Gesellschaft und einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Lebensstile weiter anwächst. Diese divergierenden Entwicklungen, einerseits ein Abdriften des Allgemeinwohls in wirtschaftliche und private Einzelinteressen andererseits eine Begrenztheit der natürlichen Ressourcen, bedürfen einer geänderten Planungsgrundhaltung.
  • Das Konfliktpotenzial zwischen raumordnerischen Leitvorstellungen und wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen wird auch weiterhin bestehen bleiben, beziehungsweise sich in einzelnen Bereichen wie z. B. in der Handelsstrukturentwicklung weiter verschärfen.
  • Allerdings kann das räumliche Planungssystem ökonomische und gesellschaftspolitische Trends nicht umkehren, sondern nur kanalisieren und in ein räumliches Gesamtsystem einbauen.
9. Die Stadtentwicklung muss in ihren Grundprinzipien auf Leitbilder der Nutzungsmischung, Nachhaltigkeit und Kompaktheit orientieren. Kompakte Stadtentwicklung heißt, die Zentralität der Orte mit der Aufwertung ihrer zentralen Bereiche durch den Einzelhandel entsprechend ihrer Stellung im Siedlungssystem wiederzuerlangen, die weitere Handelssuburbanisierung durch die Wiedernutzung brachgefallener Flächen in den Städten zu stoppen und die Ränder zu verfestigen. Nur durch aktive Umsetzungsstrategien können diese Leitbilder verwirklicht werden.

Nach Verfasserberechnung werden unter Ansatz der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung (Kaufkraftsteigerung, Bedürfnisentwicklung der Konsumenten) in Thüringen bis zum Jahr 2010 zusätzlich ca. 225.000 qm reine Einzelhandelsfläche marktwirksam.
  • Diese perspektivischen Flächen sind standort-, handelsnetzseitig, raumordnerisch und städtebaulich so einzuordnen, dass langfristig eine Kongruenz zwischen dem Netz der zentralen Orte und dem primären Handelsnetz wiederhergestellt werden kann.
  • Erfolgt hingegen eine weitere Stärkung des sekundären statt des primären Handelsnetzes, ist also die Suburbanisierung nicht mehr zu stoppen, werden die historisch gewachsenen Stadtstrukturen aufgesprengt, sie "veröden".
  • Die Leitbilder wie Dezentrale Konzentration, Nutzungsmischung, Nachhaltigkeit und kompakte Stadt liefern dabei eine wichtige Orientierung, auch unter dem Gesichtspunkt gesamteuropäischer Entwicklung (EUREK).
  • Die Leitfunktion des Einzelhandels für die Innenstädte ist damit weiter zu präferieren.
  • Als einer der größten Investoren in den Innenstädten entscheidet der Handel über die Zukunft der Städte, sowohl in Hinsicht ihrer Lebendigkeit als auch in der Sicherung als Arbeitsplatzstandort.
10. Eine neue Raumordnungs- und Stadtentwicklungspolitik ist notwendig, die die Instrumente der Raumordnung mit Mitteln der Wirtschaftsförderung zur effizienten Prozesssteuerung unter Wahrung einer nachhaltigen Raumentwicklung kombiniert.
  • Die Angebotsplanung umfasst die Entwicklung von regionalen Entwicklungskonzepten für den Einzelhandel auf der Grundlage einer Gesamtanalyse zur Qualifizierung der landesplanerischen Dokumente (Landesentwicklungsprogramm, Regionale Raumordnungspläne) im Gegenstromprinzip.
  • Die Wirtschaftsförderung beinhaltet die Rahmenbedingungen für die freie Entfaltung der Unternehmen, die Förderung des städtischen Umfeldes und die Beförderung der Kooperationen zwischen Kommunen und Einzelhandel. Dabei müssen die Ausgangsbedingungen der innerstädtischen Entwicklungen denen der peripheren Standorte durch Novellierung der Bauordnung, Einbeziehen externer Kosten, Stellplatzablösegebühren bzw. Besteuerung des Standortes "Grüne Wiese" gleichgestellt werden.
  • Die Ansiedlungssteuerung soll die Leitfunktion des Einzelhandels für eine künftige nachhaltige Stadtentwicklung umsetzen und durch Verschärfung der landesplanerischen Rechtsinstrumente eine subtilere Beurteilung der raumrelevanten Auswirkungen von Einzelhandelsentwicklungen ermöglichen. So soll der bisherige Schwellenwert zur Beurteilung der Raumwirksamkeit von Einzelhandelsvorhaben von 700 qm Verkaufsfläche auf 300 qm herabgesetzt werden. Im Vorfeld ist das Raumordnungsgesetz des Bundes mit seinen Leitvorstellungen und Aufgaben der Raumordnung als gültiges Landesrecht zu übernehmen.
  • Diese Angebotsplanungen sind als Umsetzungsstrategien durch interkommunale Kooperation zu verwirklichen. In der ersten Stufe soll durch den Aufbau eines Städtenetzes A 4 eine breite kommunale Plattform mit den übergreifenden Aufgabenfeldern Wirtschaftsförderung einschließlich des Handels, Technologietransfer, Kulturaustausch, Imagewerbung und Marketing gebildet werden.

veröffentlicht am 18.07.2001 von Susann Weber · Rubrik(en): News

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