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Rede Andreas Gottlieb Hempel, 1. Teil

Neujahrsempfang 2002

1. Einleitung


1.1 Begrüßung
Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren der Landesregierung und des Landtages, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren,

zum Neujahrsempfang der Architektenkammer Thüringen heute hier sprechen zu dürfen ist für mich eine besondere Ehre. Denn: das Jahr 2002 ist für die deutsche Architektenschaft von besonderer Bedeutung. Zum ersten Mal seit der Gründung der Union Internationale des Architectes UIA findet der alle drei Jahre abgehaltene Weltkongreß der UIA bei uns in Deutschland, in Berlin, statt.

Ich danke den Kollegen der Architektenkammer Thüringen deshalb sehr herzlich dafür, daß die heutige Veranstaltung thematisch auf diesen UIA Weltkongreß für Architektur hinweisen soll und Sie mich als 1. Vizepräsidenten der UIA und den als für die Organisation verantwortlichen Kongreßpräsidenten gebeten haben, zum Thema des Kongresses - nämlich: "Ressource Architektur" zu sprechen.
Erlauben Sie mir aber zuvor eine kurze Vorstellung der UIA:

1.2 Die Union Internationale des Architectes
Die UIA wurde 1948 auf Initiative des Architekten und Journalisten Pierre Vago - er ist heute noch, 91-jährig, Ehrenpräsident der UIA - gegründet, mit dem Ziel, die Architekten aller Länder in einer Union ihrer Standesorganisationen zu vereinen. Derzeit sind die Organisationen von 95 Ländern Mitglieder der UIA. Sie repräsentieren damit ca. 1.5 Millionen Architekten.

Die UIA ist die einzige weltumspannende Organisation des Berufsstandes der Architekten. Sie ist bei den Vereinten Nationen als Non Governmental Organisation (NGO) akkreditiert. Vor allem mit der UNESCO ist die Zusammenarbeit besonders intensiv.

Die UIA ist in fünf Regionen unterteilt:
  • Region I, Westeuropa (ich vertrete diese Region derzeit)
  • Region II, Osteuropa und vorderer Orient
  • Region III, Nord- Mittel- und Südamerika
  • Region IV, Australien und Asien
  • Region V, Afrika
Die Regionen werden von jeweils einem Vizepräsidenten geleitet, der seine Region auch im Präsidium (UIA-Bureau) repräsentiert.

Das Präsidium besteht neben den fünf Vizepräsidenten der Regionen aus Präsident, Generalsekretär und Schatzmeister. Das Präsidium leitet die Arbeit des UIA-Sekretariats in Paris und bereitet Entscheidungen für die Ratssitzungen vor.
Der UIA-Rat - das Exekutivorgan der UIA - besteht aus dem UIA-Bureau, jeweils 4 Ratsmitgliedern aus jeder Region, dem Past-President und dem Direktor des UIA-Sekretariats. Neben diesen 30 Mitgliedern des UIA-Rats können auf besondere Einladung die früheren Präsidenten der UIA an den zweimal im Jahr stattfindenden Sitzungen des UIA-Rates beratend teilnehmen.

Die Generalversammlung ist das Entscheidungs- und Wahlorgan der UIA. Sie tritt mit ihren ca. 280 Delegierten alle drei Jahre anläßlich des UIA-Weltkongresses zusammen. Die Generalversammlung entscheidet über die Vorlagen des UIA-Rates, wählt die Mitglieder in den Gremien und bestimmt den Ort der jeweiligen UIA-Weltkongresse.

Die inhaltliche Arbeit der UIA wird in den UIA- Kommissionen und -Arbeitsgruppen geleistet. Derzeit bestehen 18 international besetzte und vom UIA-Generalsekretär koordinierte Arbeitsgruppen und Kommissionen. Besondere Bedeutung hat in den letzten Jahren die Professional Practice Commission erhalten, die den von der Generalversammlung einstimmig angenommenen "UIA Accord on Recommended International Standards of Professionalism in Architectural Practice" im Hinblick auf die Liberalisierung der Dienstleistungen im Rahmen der GATT/GATTS Vereinbarungen geschaffen hat. Erstmalig hat sich damit eine Berufsgruppe weltweit anerkannte Standards für die Qualifikation der Berufsausübung gesetzt.

Während der Jahrzehnte der Aufteilung der Welt in gegensätzliche politische Machtblöcke war die Arbeit der UIA ausschließlich berufsinhaltlich orientiert. Dies ermöglichte uneingeschränkten Austausch der UIA - Repräsentanten über die Grenzen hinweg. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme hat sich die UIA im Rahmen der Globalisierung und der Marktöffnungen für Dienstleistungen verstärkt berufspolitischen Aufgaben zugewandt. Der eben erwähnte Accord ist das bedeutendste Beispiel dafür, wie sich die Architektenschaft den international veränderten Berufsbedingungen stellt.

Anläßlich des UIA Berlin 2002 Weltkongresses für Architektur werden auch alle UIA-Gremien in Berlin zusammentreten.

1.3 Die geistigen Grundlagen der UIA Arbeit
Das Ziel der UIA zu ihrer Gründung war es, nach dem verheerenden Weltkrieg alle Architekten in friedlicher Aufbauarbeit zusammenzuführen und für eine menschenwürdige gebaute Umwelt weltweit zu sorgen. Qualität der Architektur, Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft und Verantwortung für die Umwelt und ihre Ressourcen haben die Arbeit in der UIA bestimmt. Besonderen Vorrang hatte dabei der Gedanke, daß vor allem eine sorgfältige Ausbildung der Architekten und der geistige Wettbewerb das Niveau der gebauten Ergebnisse bestimmen könnte. Die UNESCO / UIA Charta for Education und die UNESCO / UIA Regeln für Internationale Wettbewerbe waren u.a. das Ergebnis.

Das Bild der Architektenleistungen wurde dabei immer ganzheitlich gesehen. Eine Auffassung, die heute angesichts der Erosion der natürlichen und geistigen Ressourcen in allen Bereichen der Ökonomie, der Ökologie, der Gesellschaft und der Kultur bestätigt wird. Nur eine globale Betrachtung der komplexen Auswirkungen unseres Tuns kann die Grundlage heutiger Planung sein. Gerade auch die politischen und kulturellen Auseinandersetzungen der jüngsten Zeit zeigen uns, das Eingriffe in die Umwelt - in unsere Erde und in unsere Kultur - nicht vereinzelt und losgelöst sondern ganzheitlich und global betrachtet werden müssen.

1.4 Über die Ressourcen kosmischer Zusammenhänge
Für einen Neujahrsempfang ist es angemessen - auch im Zusammenhang mit den guten Vorsätzen, die wir hoffentlich alle zu Beginn des Jahres fassen - nachdenklich auf einige Grundlagen zurückzugreifen, die gewissermaßen existentielle Ressourcen darstellen.
Der Begriff Kosmos - griechisch: die Ordnung, der Schmuck der Gestirne - wurde schon im klassischen Altertum auf die als wundervoll und harmonisch empfundene Fügung des Universums angewandt. Mit der universellen Ordnung war der Mensch geistig und materiell verbunden und wurde von ihr auch schicksalsmäßig bestimmt - wie die alte ganzheitliche Wissenschaft aus Philosophie, Mathematik, Astronomie und Astrologie erarbeitet hat. Das große kosmische Geschehen ist ein ständiges ausgewogenes Geben und Nehmen. Und nur wer sich aus diesem Geschehen ausklinkt, mißbraucht diese Ausgewogenheit. Alles ist eingebettet in die großartige Hierarchie des Kosmos und spielt darin eine Rolle, mag diese auch noch so klein sein.

Man braucht sich nicht unbedingt mit den Prophezeiungen und Voraussagen über Naturkatastrophen, Umweltzerstörungen und Kriege zu befassen um festzustellen, daß wir uns in einer entscheidenden Phase der Umwälzungen befinden. Die Entwicklungszyklen, die der Kosmos über unendliche Zeitläufe durchmacht sind, materiell wie geistig, wieder in ein entscheidendes Stadium eingetreten. Neue Strahlungen, neue Energien stehen zur Verfügung. Entscheidend ist, was wir daraus machen. Jeder Einzelne trägt durch seine Einstellung zum globalen Geschehen bei - auch hier im Horizont der Erde und im Horizont des Geistes.

Die äußeren Ereignisse sind ein Spiegel des inneren Zustandes der Menschen.

Das fortschreitende Bewußtsein über die Umweltverwüstungen, die sozialen und religiösen Ungerechtigkeiten, die gewaltigen Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern und den daraus entstehenden Kriegen und eines weltweiten Terrorismus, lassen viele Menschen aufhorchen. Gruppen formieren sich, um sich für die Umwelt und die Menschenrechte einzusetzen, spirituelles und tolerantes religiöses Interesse erwacht.

Dennoch tun die meisten Menschen so, als wüßten sie nicht, um was es geht! Business as usual. Der Grund dafür ist, daß sie sich nicht verändern wollen, damit auch Außen nichts verändert wird. Dennoch gibt es keine Kräfte, um die kosmischen Veränderungen eines neuen Zeitalters aufzuhalten. Die alten Regeln sind verbraucht, neue Bedürfnisse müssen erfüllt werden. Neue Bereiche werden erschlossen und neue Paradigma eröffnet, die vor einigen Jahren noch vehement abgelehnt worden wäre. Es ist eine Flutwelle neuen globalen Wissens, welches das kollektive Bewußtsein der Menschheit überrollt. Überall ist neue Energie zu spüren, die aber - je nach innerer Einstellung - nicht nur zu positiven Auswirkungen führt.

Es ist an uns, diese Energien in positive Richtungen zu lenken. Auf den drei Ebenen, die im Menschen angelegt sind:

Geist, Seele und Körper oder Spiritualität, Emotionalität und Körperlichkeit oder nochmals anders
in den Horizonten der Religionen, der Kulturen und der Erde.

Sie sehen, es geht mir um die Ganzheitlichkeit, die kosmische Einbindung, vor deren Hintergrund die Überlegungen zur "Ressource Architektur" gesehen werden sollten. Einer Ressource für das Urbedürfnis und die Urkunst des Menschen, sich als geistiges Wesen in der Materie zu behausen und Entsprechungen zum Jenseits im Diesseits durch die gebaute Veränderung der Umwelt zeichenhaft, semantisch und symbolisch auszudrücken.

2. Architektur als sichtbare und unsichtbare Ressource


2.1 Zu den Bedingungen für Architektur
Wendet man sich der Architektur als Ressource zu, so ergibt sich eine weiträumige Perspektive. Die Spannweite reicht von der materiellen Dimension über die seelischen Bereiche bis in die geistige Welt. Unsere natürliche und gebaute Umwelt bietet endliche, sich erschöpfende Ressourcen. Unsere seelischen Empfindungen werden von Stimmung und Ausstrahlung der Natur und der Architektur bestimmt. Unser Geist mit seiner Phantasie, Kreativität, Vorstellungs- und Erfindungskraft stellt eine unendliche Ressource dar - auch für das Planen und Bauen, für die Architektur und Baukunst.

Der XXI. UIA-Weltkongress für Architektur, der sich diesem Thema stellt, muss diese sich überlagernden Dimensionen erfassen, beschreiben und ausdeuten. Mehr noch - er muss zukunftsweisende Strategien entwerfen, welche die Entwicklungsmöglichkeiten für diese drei Ebenen darlegt:
  • Eine neue globale Umweltpolitik für den Horizont der Erde
  • Eine neue globale Friedenspolitik für den Horizont der Seele
  • Eine neue globale Kulturpolitik für den Horizont des Geistes
Dies alles kann nur im Dialog der Regionen, der Gesellschaftssysteme und der Kulturen erfolgreich sein. Es ist ein Dialog der Disziplinen, die sich zu einer neu verstandenen ganzheitlichen Verantwortung für die genannten, gemeinsamen Ziele zusammenfinden müssen. Dabei muss auch die Profession der Architekten ihr Selbstverständnis und ihre Ziele neu definieren. Dies kann nur über die Inhalte geschehen, welche die Architektur erfüllen.

Architektur ist mehr als Bauen. Architektur bildet einen Mehrwert, der unserer gebauten Umwelt hinzugefügt wird. Dieser Mehrwert ist schwer messbar - aber er wird sofort bemerkt, wenn er nicht vorhanden ist. Man erkennt diesen Mehrwert nicht nur an der Schönheit sondern daß Architektur ein Gesamtkunstwerk in der Umweltgestaltung ist, hervorgegangen aus kulturellem Bewusstsein, historischen Überlieferungen und regionalen Besonderheiten. Dies basiert auf komplexen Fügungen zu ganzheitlichen Lösungen unter Einbeziehung folgender Faktoren:
  • Schonung natürlicher Ressourcen
  • Respekt vor der Geschichte
  • Kenntnis kultureller Zusammenhänge
  • Umgang mit örtlichen Besonderheiten
  • Berücksichtigung gesellschaftlicher Bedingungen
  • optimaler Einsatz ökonomischer Möglichkeiten
  • Entwicklung von Maßstäben auf der Grundlage von Werten
  • zeitgemäßer Formgebung
Aus dieser Komplexität entsteht Architektur.

Ca. 50 - 70% des Volksvermögens ist in Bauwerken und Infrastruktur festgelegt. Architekturpolitisches Ziel muss es sein, diesen Vermögenswerten einen ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Mehrwert zu verleihen - einen Mehrwert, der erst durch Architektur entsteht.

2.2 Zur Schönheit architektonischer Gestaltung
Dies ist ein Exkurs in schwierigem Gelände, der nur erfolgreich sein kann, wenn Schönheit als der Ausdruck für die äußere Entsprechung innerer Verhältnisse gesehen wird.
Die Schönheit architektonischer Gestaltung kann nicht absolut gesehen werden - wie in der bildenden Kunst, der Musik oder Poesie - sondern wird relativiert durch ihre Bezüge auf Technik, Funktion und Material. Dennoch bleibt auch dieser Schönheit die Aufgabe, semantisch Inhalte einer geistigen Welt sichtbar zu machen.

Es geht darum, den Begriff der Schönheit anhand einer aufrichtigen Entsprechung von der Gestalt mit dem Inhalt zu messen. Die wahre Entsprechung der Form zur Bedeutung war zu allen Zeiten das Kriterium für Schönheit. Soll allerdings Gestaltung über die wirklichen Verhältnisse hinwegtäuschen, dann entsteht Design für Oberflächen oder Kitsch als schöner Schein der Lebenslüge.
Wenn also der Begriff der Schönheit in Zusammenhang mit der Architektur wiederverwendet wird, dann in dieser differenziert anzuwendenden Definition.. Wenn nämlich im Vokabular der Architekten die Worte "Schönheit" und "schön" vermieden werden, dann schwindet das Verständnis für einen Berufsstand, von dem erwartet wird, dass er schöne Gestaltung als wesentliche Aufgabe ansieht.

Schönheit tritt als Paradigma des Unsichtbaren auf. Architektur ist die Kunst der Fuge. Nicht die Flächen sind das Problem, sondern die Fügungen zwischen den Flächen - im übertragenen Sinne die Fügungen, die Zusammenhänge, die Übergänge zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen Form und Bedeutung.

2.3 Zur Entsprechung von Gestalt und Geist
Niemand hat das Gleichnishafte zwischen Gestalt und Geist besser ausgedrückt als Antoine de Saint Exupéry:

"On ne voit bien qu'avec le coeur. L'essentiel est invisible pour les yeux."
(Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.)

Der kleine Prinz hat seine Wahrheiten aus einer anderen Welt mitgebracht, der Welt der Engel, der Kinder, der Phantasie, der Menschlichkeit und des Jenseits. Wir Erwachsenen dagegen, wir als Techniker, homini faber und Wissenschaftler, wir, denen uns alles Sichtbare berechenbar und machbar erscheint, wir haben vor der Dimension des Unsichtbaren Angst.

Wir haben Angst vor dem Unsichtbaren, weil unsere kleine, aufs materielle verkürzte Realität im Gegensatz zu dieser Unendlichkeit begrenzt und armselig erscheint. Wir haben Angst vor dem Unsichtbaren, weil in der Welt des Herzens die unerbittlichen Maßstäbe des Gewissens gelten und nicht rationale Argumente. Wir haben Angst vor dem Unsichtbaren, weil sich in seinen Weiten das wirkliche Leben entfaltet - grenzenlos im Gegensatz zur begrenzten nur vom Verstand begreifbaren Realität.

Das Wesentliche ist grenzenlos, kann nur mit dem Herzen erkannt werden und bedarf doch der materiellen Begrenzungen um als Entsprechung sichtbar zu werden. Dieses Paradoxon zwischen Geist und Materie spiegelt sich nicht nur in allen menschlichen Wesen sondern natürlich auch in der Architektur. Die Räume - ob außen oder innen - die von Wänden oder Fassaden begrenzt werden, sind vom Unsichtbaren des Geistes der Architektur erfüllt, die sie umgibt.

2.4 Genius loci oder das Unsichtbare
Genius loci, der Geist, das Wesen oder die Stimmung eines Ortes ist unsichtbar und erfüllt doch jeden Winkel mit seiner Atmosphäre. Er kann nicht mit den Augen sondern nur mit dem Empfinden, dem Herzen wahrgenommen werden. An ihm entscheidet sich, ob wir uns an einem Ort wohl fühlen, ob uns das Herz aufgeht. Dieser Geist bestimmt die wahre Schönheit der Gestalt. Strahlt sie ihn nicht aus, so lassen uns auch die kunstvollsten Formen kalt.

Geist, Atmosphäre und Materie sind einer Herkunft - nur in verschiedenen Aggregatzuständen, vergleichbar etwa mit dem Wasser, dessen Erscheinung je nach Temperatur und molekularer Dichte als Dampf, Flüssigkeit oder Eis auftritt. Insofern gibt die gebaute Architektur durch den Geist aus dem sie entstand, durch die Atmosphäre ihrer Materialien und durch die ihr übertragenen Absichten der materiellen Ausgestaltung ihrer Schöpfer - Menschen in ihrer Zeit, Bauherr Architekt und Bauleute - Zeugnis vom Wesen ihrer unsichtbaren Innenwelt.

Wer mit offenem Empfinden durch Stadträume oder Gebäude geht, wird sehr schnell wahrnehmen, daß die unsichtbare Atmosphäre des Raumes mehr über das Wesentliche des Ortes aussagt als die Gestaltung der Oberflächen.

2.5 Beispiele
Wer über die Bilder und Räume den Geist von Ort, Geschichte und Kultur zu verstehen sucht, der wird das Wesentliche, das Unsichtbare deshalb begreifen, weil es in der Imagination der Seele wieder innere Gestalt annimmt.

Am Beispiel des Ortes für den XXI. UIA-Weltkongress, Berlin:

Berlin war vor dem ersten Weltkrieg eine der vier größten Industriestädte der Welt. Der rasche Aufbau in den Gründerjahren am Ende des 19. Jahrhunderts hatte mit seiner Boden und Bauspekulation, der übermäßig verdichteten Baublocks mit den sogenannten Mietskasernen zu unerträglichen und unsozialen Wohnzuständen für die Industriearbeiter geführt.

Wegen dieser unmenschlichen Wohnverhältnissen entstand in den zwanziger Jahren als Gegenentwurf der soziale Wohnungsbau "im Grünen". Wer heute die Bauten dieser Siedlungen besucht, ist sicher auch durch die Architektur der klassischen Moderne und der gestalterischen Ideen beeindruckt, die dem Bauhausgedanken folgen.

Stärker jedoch als die Baukörper- und Fassadengestaltungen der Architekten Taut, Mies van der Rohe, Gropius, Scharoun und anderer bleibt die Atmosphäre der neuen, besseren Lebensbedingungen für die Arbeiter im Gedächtnis. Die blühenden kleinen Gärten der Reihenhäuser, das Sonnenlicht, das durch die sanft schwingenden Wipfel der Föhren zwischen den weißen Bauzeilen mit den bunten Fensterrahmen fällt, die ruhigen, gepflasterten Seitenstraßen mit spielenden Kindern. Es bleiben Gedanken an sozialen Frieden und ein Glück, das aus irgendwelchen Gründen zu Unrecht "das Kleine" genannt wird - wie könnte Frieden sonst entstehen?

Das Beispiel lässt sich fortsetzen. Wichtig ist zu verstehen, daß das unsichtbar Wesentliche - der genius loci - umbaut werden, sichtbar gefaßt werden kann. Wahrscheinlich besteht der Geist eines Ortes immer schon, bevor ihm bauliche Gestalt verliehen wird.

Ganz bestimmt sind viele bedeutende Architekturen aus den Vorgaben eines Platzes mit atmosphärischer Dichte oder auch landschaftlicher Besonderheit in der Absicht entstanden, diesen magischen Ort zu überhöhen. Die Stonehenges, das Theater in Epidaurus ebenso wie der Tempelberg in Jerusalem. Aber auch die Freiheitsstatue in New York oder der Eiffelturm als Symbole gesellschaftlicher oder technischer Errungenschaften. Nicht zuletzt trifft uns die Zerstörung der Twin-Towers in New York als Mahnung für eine gerechtere Weltordnung im Dialog der Religionen, der Kulturen zu arbeiten und in Toleranz eine gerechtere und friedlichere Weltordnung zu gestalten

Erstaunlich sind die Wechselwirkungen vom Wesentlichen, das nur mit dem Herzen gesehen werden kann und der steingewordenen Materialisation, die das Unsichtbare im wahrsten Sinne des Wortes "begreifbar" werden lässt.

2.6 Der Zeitgeist
Wohl der wichtigste Faktor ist dabei die Zeit - im Sinne von Geschichte - in der ein Bau verwirklicht wurde und zu der er den inneren Erkenntnissen oder Empfindungen "zeitgerechte" Gestalt verleihen konnte. Dieser Entstehungszeitraum kann zu keinem späteren Zeitpunkt wiederholt oder nachempfunden werden. Zu stark verändert sich im Ablauf der Zeiten die Empfindung für geistige Verhältnisse und deren Interpretation. Aber nicht nur das Ausdrucksvermögen sondern auch die Fähigkeit zum originären Verständnis ist dem Zeitpunkt des Entstehens unterworfen.

Hier muß jede Kritik an einer historisierenden Architektur einsetzen. Was als originaler Ausdruck des Zeitempfindens zur inneren Wirklichkeit überzeugen kann, ruft als historisierender Nachbau bestenfalls Langeweile hervor, da keine Entsprechung der äußeren Gestalt zur inneren Wahrheit besteht, also die Spannung zeitgemäßer Relation fehlt.

Spannungslosigkeit tritt immer dann auf, wenn keine wirkliche Lösung der Aufgabe versucht wird, der geistige Pol dem materiellen Pol nicht entspricht und somit kein Kraftfluß entstehen kann. Was an geistigem Gehalt nicht qualitativ in entsprechender Gestalt wiedergegeben werden kann, wird nur durch hohle Form, ja bisweilen durch Formeln, die zum Dekor verkommen, ersetzt. Ihnen fehlt die Qualität des Semantischen.

Zeitgenössische Interpretation von Inhalten, Funktionen, Repräsentationsansprüchen, räumlichem Empfinden muß mit zeitgenössischen Mitteln erfolgen. Das bedeutet allerdings nicht, daß auf vorhandenen Baubestand verzichtet werden soll. Ganz im Gegenteil - dies ist eine unschätzbare Ressource. Bauherren, Architekten und Handwerker sollten sich glücklich schätzen, wenn bestehende Gebäude oder Bauteile mit historischem Wert verwendet werden können. Dabei eröffnen sich Dimensionen der Rückerinnerung, der Selbstidentifikation, des Traditionsbewußtseins und der Kontinuität des Bewusstseins - eine Ressource für den Genius loci von oft unschätzbarem Wert.

Atmosphäre, Ortsverbundenheit und Rückerinnerung - manchmal nur im Unterbewußten - werden für die Bauaufgabe, die mit der Verwendung des Bestandes innovativ arbeitet, geradezu zum Geschenk. Dies ist besonders wichtig in einer Zeit, in der gestalterische Unverwechselbarkeit als "corporate identity" meist krampfhaft gesucht wird.

2.7 Globalisierung und Identität
Gerade im Zeitalter der Globalisierung, in dem Banken, Baufirmen und Planer als global players weltweit tätig werden, um - meist ohne den künftigen Nutzer zu kennen - Immobilien als Ware für Kapitalanleger anzubieten, müssen sich die Architekten mit Politikern, verantwortungsbewußten Bürgern vor Ort und mit ihrem eigenen Gewissen aber auch mit ihrem Wissen verbünden, um der Baukunst auch an weit entfernten Baustellen gerecht zu werden, Architektur für den Genius loci zu entwickeln.

Dazu gehört ein intensives Einfühlen und Erspüren der jeweiligen Situation aber auch der Mut, sich dem zu verweigern, was heute landauf - landab einmalige Situationen unwiederbringlich durch gedankenloses, unsensibles und nur geschäftstüchtiges Planen zerstört.

Architekten sollten sich auch zurück nehmen können, sich als eine Stimme unter vielen verstehen und nicht jede Mode an jedem nur denkbaren Platz unreflektiert und ohne Rücksicht auf den genius loci nach- bzw. vormachen. In Zeiten der Nivellierung, der Gleichmacherei, der Beliebigkeiten und des gedankenlosen und gnadenlosen Verbrauchs von einmaligen Orten, Ressourcen und unwiederbringlichen Situationen ist das Bewahren von Geist, Atmosphäre und Gestalt eine Frage der Identität - kurz: der Würde.

2.8 Die unendliche Ressource
Man kann erkennen, dass das Unsichtbare und das Sichtbare in der Architektur eng verbunden sind - so wie sich der unsichtbare Seelenzustand eines Menschen in seiner Körperlichkeit, seinem Minenspiel, seiner Handschrift, seinen Bewegungen ausdrückt. Die spannungsvollste Ressource der Architektur ist das Wechselspiel zwischen Immateriellem und Materiellem, zwischen Geist und Körper, zwischen Idee und gebauter Wirklichkeit ist.

Die werthaltigste Ressource der Architektur ist die Phantasie, die Kreativität, die Ideen der Architekten. Kanalisiert werden muss diese Ressource allerdings durch Maßstäbe, die aus moralisch und ethisch geprägten Wertvorstellungen entwickelt werden müssen. Geistige Ressourcen sind unerschöpflich sind, ständig erneuerbar, voller Überraschungen und voller Zukunftsperspektiven. Den Menschen, den Architekten werden die Ideen niemals ausgehen.

2.9 Die Zukunft endlicher Ressourcen
Die materiellen Ressourcen dagegen sind endlich. Freie Landschaft verwandelt sich in Suburbia, die euphemistisch Zwischenstadt oder gar Parkstadt genannt wird. Energie aus fossilen Brennstoffen ist unwiderruflich beschränkt - auch wenn alle die Augen verschließen und das nicht wahr haben wollen.
Materialien müssen in Materialkreisläufe überführt werden, wenn wir unseren Kindern noch die Möglichkeit zu bauen lassen wollen. Zumindest sollten einmal verwendete Materialien wenigstens in anderer Form in den Kreislauf der Verwendung zurückkehren - wenn nicht gar in den Kreislauf der Natur.

In der Menschheitsgeschichte hat es einige Beispiele für Architektur als werthaltige und dauerhafte Ressourcen gegeben. Das beeindruckenste Beispiel für uns Europäer ist sicherlich Venedig. Aus Sumpf und Schlamm ist die Stadt mit der reichsten Kultur entstanden. Der völlige Mangel an natürlichen Ressourcen hat dazu geführt, das jeder Stein wiederverwendet , jeder Ziegel zweimal umgedreht wurde. Das Leben mit den knappen materiellen Ressourcen hat die Schleusen der immateriellen Ressourcen geöffnet. Genie, Künste und Erfindungsreichtum blühten - nicht nur in der Architektur, auch in der Politik.

2.10 Ressource Architektur und Politik
In Venedig hat das Wissen um das Gleichgewicht mit der Natur die Balance der politischen Kräfte gefördert, zum Ausgleich der sozialen Spannungen geführt und eine republikanische Staatsform geschaffen, die fast 1200 Jahre existierte und damit die dauerhafteste Staatsform der Geschichte darstellt. Ein Paradigma für eine positive Globalisierung. Wir lernen daraus, dass Architektur nicht nur etwas mit Bauen zu tun hat.

Architektur als Baukunst, als Baukultur gehört zur Substanz des Menschen. Ihre Blüteformen beweisen, dass sie eine werthaltige Ressource für die Ökonomie und Wirtschaft, für Materialkreisläufe im Einklang mit der Natur, der Ökologie ist. Darüber hinaus ist sie der Rahmen für das menschliche Zusammenleben, für soziale Verhältnisse und die Gesellschaft. Am stärksten jedoch ist der kulturelle Wert der Architektur - Baukultur ist die Brücke unserer diesseitigen Verhältnisse in die Welt des Unsichtbaren.

Diese Brücke zwischen Geist und Welt verdient eine eigene politische Dimension: Architekturpolitik oder politische Strategien für eine nachhaltige und globale Architektur, Stadt- und Landschaftsentwicklung. Architekturpolitik muß im Kontext einer neuen und globalen Friedenspolitik für die Menschheit entwickelt werden.

Diesem Ziel soll der XXI. UIA Weltkongress der Architektur in Berlin dienen. Um die zu entwickelnden Thesen zu begründen, soll die Thematik des Weltkongresses "Ressource Architektur" aus den Fragen unserer Zeit für die Ziele, Perspektiven und Paradigmen im folgenden näher erläutert werden.

veröffentlicht am 14.01.2002 von Susann Weber · Rubrik(en): News, Berufspolitik / Kammerarbeit

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