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Tradition und Innovation – zwei Seiten einer Medaille

Rückblick auf die Podiumsdiskussion am 9. Juni im Kesselraum des Erfurter Heizwerks

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Podium von links nach rechts: Gerd Zimmermann, Jan-Christoph Stockebrand, José Mario Gutierrez Marquez, Klaus Dieter Böhm, Matthias P. Gliemann, Bild: AKT

Gut 80 Gäste waren der Einladung der Architektenkammer Thüringen gefolgt, um mit Erneuerern und Bewahrern, Architekten und Projektentwicklern gleichermaßen über das besondere Verhältnis des Begriffspaares zu diskutieren. Prof. Dr.-Ing. Gerd Zimmermann, Präsident der Stiftung Baukultur Thüringen und Rektor a.D. der Bauhaus-Universität Weimar, übernahm kurzfristig die Rolle des Impulsgebers und führte in die komplexe Beziehung der beiden Begriffe ein. Lässt sich die Sehnsucht nach detailgetreuer Rekonstruktion des Verlorenen als ein Phänomen der viel beschworenen „German Angst“ deuten? Oder ist eher eine „German Zuversicht“, wie sie Ursula Baus in ihrem Beitrag konstatiert, zu erkennen, die insbesondere eine neue Verantwortung für Energie und Umwelt erkennen lässt und das Bedürfnis und den Glauben daran, Dinge positiv verändern zu können? Die Diskutanten wurden zu ihren Einschätzungen und Haltungen befragt und gebeten, an Projektbeispielen die Gedanken zu verdeutlichen.

Dipl.-Ing. Matthias P. Gliemann, Architekt und Vorsitzender des Thüringer Landesdenkmalrates, hatte als erster das Wort. Er verwies in seinem Eingangsstatement auf die Grenzen von Innovation. Insbesondere die Furcht vor der Klimakatastrophe und die damit verbundenen Forderungen nach einer Energiewende führen seines Erachtens zu wenig akzeptablen Lösungen im Umgang mit dem Denkmalbestand. In seiner Funktion als Vorsitzender des Landesdenkmalrates lehnte M. P. Gliemann Solarzellen auf Kirchendächern ab. Er sprach sich gegen die Außendämmung von denkmalgeschützten Fassaden aus und warnte vor Windkraftanlagen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Weltkulturerbestätten. Als gelungenen Spagat zwischen Tradition und Innovation stellte M. P. Gliemann die Umnutzung der Jacobikirche in Mühlhausen zur Bibliothek vor. Die neue Nutzung zeigt baulich-räumlich respektvollen Abstand zum ehemaligen Kirchengebäude und ist jederzeit reversibel.

Auch Klaus Dieter Böhm, Geschäftsführer der Toskanaworld GmbH aus Bad Sulza, sprach sich gegen eine rückwärtsgewandte eklektische Rekonstruktionssehnsucht aus, seines Erachtens ein Signal fehlenden Mutes. Für ihn entsteht Innovation aus der Tradition heraus. So ermöglichen neue (Computer-)Technologien einen neuen Umgang mit traditionellen Baustoffen, wie z. B. dem Werkstoff Holz. Die Dachkonstruktion der Toskana Therme in Bad Sulza, die als stützenfreie Holzrippenschale entstand, verdeutlichte dies sehr eindrucksvoll. Das neue Thermalbad wurde als Solitär in die umgebende Landschaft integriert. Die frei gewählte Dachform erinnert an eine Welle über der neuen Landschaft aus Wasser, Ruhezonen und Podesten, die sich auf verschiedenen Niveaus entwickelt und das Spiel der Terrassen im Außenraum aufgreift.

Dipl.-Ing. Jan-Christoph Stockebrand, Architekt im Büro Jürgen Mayer H., Berlin, plädierte dafür, dass jede Generation seine eigene Sprache braucht. Allerdings konstatierte auch er ein geringes Vertrauen in den Fortschritt. Die Zukunftsangst, die Sorge sich zu schnell zu bewegen, sei gekoppelt an die Angst, etwas zu verlieren. „Das Bemühen um Wahren von Tradition“, so J.-C. Stockebrand, „darf nicht mit der Forderung nach einem bestimmten Stil gleich gesetzt werden. Der Bezug zu Tradition im architektonischen Sinne geht über das subjektive, rein ästhetische Empfinden von Erscheinung hinaus und drückt sich vielmehr im Umgang mit Gewohnheiten und deren Einschreibung auf den (Stadt-)Raum aus. Innovation ist immer im engen Dialog mit der Tradition möglich und sogar notwendig. Kaum ein schöpferisches Medium ist traditionell in seinem Kern so stark mit der Erwartung an eine bessere Zukunft verbunden wie die Architektur.“ Was das im Einzelfall bedeuten kann, wurde an zwei Projektbeispielen verdeutlicht. Das Büro Jürgen Mayer H. baut den Sonnenhof, ein Ensemble aus viereinhalb- bis sechsgeschossigen Wohn- und Bürogebäuden im historischen Zentrum von Jena. Bauherr ist die Wohnungsgenossenschaft „Carl Zeiss“ eG. Im April 2011 wurde das Metropol Parasol in Sevilla fertiggestellt. Die Holzkonstruktion gilt als die Größte der Welt und überspannt innerhalb der dichten mittelalterlichen Innenstadt einen einzigartigen städtischen Raum.

Prof. Dipl.-Ing. José Mario Gutierrez Marquez, Bruno Fioretti Marquez Architekten, Berlin, konstatierte: „Als Architekt haben wir die Pflicht, uns zu äußern. Wir können gar nicht anders als zeitgenössisch bauen. Jede Kopie ist eine Sünde, da sie die Legitimität des Originals in Frage stellt.“ J.M.G. Marquez leitete daraus die Forderung ab, mit Mut und Respekt und mehr durch „leises Understatement“ als durch laute Proklamation dem Stadtkörper eine neue Schicht hinzuzufügen. Als neuen Impuls zur leidigen Rekonstruktionsdebatte darf zweifelsfrei der Wettbewerbsbeitrag seines Büros zum Dessauer Meisterhausensemble angesehen werden. Das Prinzip der Unschärfe wird als wesentliche Komponente des Erinnerns verstanden und zum Kerngedanken des Entwurfs gemacht. Der Entwurf erfüllt die Aufgabe der Reparatur des Ensembles. Er verweigert sich jedoch der Rekonstruktion und sichert durch die Wahl von Textur und Material die Erkennbarkeit von Bestand und Neuem und so den Ausdruck einer zeitgenössischen Architektur. So entsteht ein Verweis auf das verlorene Direktionsgebäude, ohne es zu ersetzen.

Die Diskussion bot vier unterschiedliche Blickwinkel auf das Thema und einte die Diskutanten sehr schnell darin, sich beiden Begriffen gleichermaßen verbunden zu fühlen. Die Zeit schritt zu schnell voran, um Rahmenbedingungen, die Innovation befördern oder hemmen, näher zu untersuchen. Die Diskussion war ein Anstoß, weiterhin Neues zu wagen. Sie bot die Überleitung zur Verleihung des „architektourpreis 2011“.

Thomas Wittenberg, Vorsitzender der Jury, knüpfte in seiner Laudatio daran an. „Der Begriff der Nachhaltigkeit zwingt uns, darüber nachzudenken, wie das Neue einmal das Vorhandene sein wird und wie es sich dann anpassen und erneuern lassen wird. Denn Nachhaltigkeit heißt im Kern Kontinuität, das Vorhandene zu bewahren und es anzupassen. Dabei soll Historie lesbar bleiben, das Neue sollte hinzutreten und es sollte eine Qualität entstehen, die die Anforderungen des Bauherrn und unserer Zeit erfüllt, die aber zugleich auch die Zielstellungen von Baukultur vermittelt …“

Gertrudis Peters

veröffentlicht am 07.07.2011 von Björn Radermacher · Rubrik(en): News, Berufspolitik / Kammerarbeit, BAU.ART.Thüringen

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