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Eine IBA ist radikal, sonst ist sie keine IBA

Die Geschäftsführerin der Architektenkammer Thüringen, Gertrudis Peters, im Gespräch mit Dr. Marta Doehler-Behzadi, Geschäftsführerin der IBA Thüringen GmbH

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Bild: Foto: Thomas Müller, Copyright: IBA Thüringen

Gertrudis Peters: Frau Dr. Doehler-Behzadi, Sie sind seit Mai 2014 Geschäftsführerin der IBA Thüringen GmbH. Sie haben sich mit Enthusiasmus der Aufgabe gewidmet. Was reizt Sie an der Tätigkeit? Was waren die größten Herausforderungen im letzten Jahr?
Marta Doehler-Behzadi: Die IBA Thüringen gehört zu den größten gesellschaftlichen und baukulturellen Projekten in Deutschland. Sie stellt offene Fragen, auf die wir noch keine Antwort wissen, aber dringend brauchen. Am Ende steht keine Ausstellung für die Galerie, sondern der Realitätstest. An einer solchen Aufgabe mitzuwirken, ist aufregend und anregend für alle Beteiligten und für mich persönlich beglückend.
Was war die größte Herausforderung? Mit meinem Start bei der IBA Thüringen wurde ein großer, lang vorbereiteter, öffentlicher Projektaufruf lanciert. Wenige Wochen später lagen bei der IBA Thüringen 248 Vorschläge aus dem ganzen Land auf dem Tisch. Der Ideenfundus in seiner unglaublichen Vielfalt spiegelte freilich auch die Unschärfe des eigenen Aufrufs wider. Nach einem Jahr intensiver Diskussionen im Team und Fachbeirat gelingt es uns heute besser, die Fragen, auf die wir Antworten suchen, zugespitzt bis provokativ zu formulieren. Nun arbeiten wir alle miteinander daran, die Ideen der ersten IBA-Kandidaten zu qualifizieren. Unsere Rolle ist es dabei, immer wieder das IBA-Niveau einzufordern, also konsequent das Neue zu fordern und das Querdenken in die Strukturen, Akteurskonstellationen, Verfahren und Organisationsform hineinzutragen, diesem Neuen aber auch eine Gestalt, einen sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Dieses Spannungsfeld zwischen Projektbetreuung vor Ort und der Formulierung einer eigenen starken Aussage, Botschaft oder These ist für die IBA Thüringen aktuell die größte Herausforderung.

Sie haben den Staffelstab der IBA nach der Gründungsphase übernommen. Ein Strauß an Leitthemen war für das Land bereits skizziert. Welche programmatische Alleinstellung kristallisiert sich für die IBA Thüringen aus Ihrer Sicht heraus?
Die IBA Thüringen braucht ein Profil der radikalen Innovation, das einen Mehrwert gegenüber anderen (und guten) Landesprogrammen für Thüringen entwickelt und nach außen deutlich machen kann. Das müssen wir uns selbst und den IBA-Kandidaten im Land abverlangen. Wir müssen also neue und überraschende Denkpositionen einnehmen und den Mut zur Provokation und zum Experiment haben. Dazu brauchen wir Arbeitsmethoden, die diesen kreativen Freiraum, den eine IBA genießt, auch füllen können. Wir können das auf verschiedenen Wegen erreichen, etwa durch internationales Knowhow, werkstattartige Arbeitsprozesse des Design Thinking, die Qualifizierungsmittel von Wettbewerben, konkurrierenden und kooperativen Verfahren, künstlerische Interventionen und kulturelle Projekte und anderes mehr. Thematisch fokussieren wir uns immer stärker auf den eklatanten Widerspruch zwischen Leere und Überfluss, die neu entstehenden Energielandschaften und neue Organisationsformen, von Commons und Co-Produktionen bis zu Ressourcenkreisläufen und neuen Teilhabemodellen. Aber wie Sie schon sagten: Das kristallisiert sich gerade heraus und ist noch keine abgeschlossene Agenda.

Die IBA Thüringen hat sich sehr früh – schon im letzten Jahr – mit dem bereits genannten Projektaufruf an die Öffentlichkeit gewandt. Aus 248 Projektideen wurden 16 IBA-Kandidaten und drei „Erwartungsräume“ gekürt. Welchen Bezug haben die ausgewählten Projekte zum programmatischen Ansatz?
Das würde jetzt eine längere Abhandlung bedeuten. Lassen Sie mich einige ausgewählte Fragen formulieren, an denen der Bezug zu unserer IBA-Programmatik deutlich wird: Was tun mit Gebäuden, die man nicht braucht? Wie das Kirchenprojekt, die Domäne in Dornburg, die Brache in Gera – alles IBA-Kandidaten – und unzählige Schlösser, Fabriken, Bauerngehöfte und Mietshäuser stehen der Bahnhof von Apolda und sein Umfeld beispielhaft für den zeitweiligen, langanhaltenden oder dauerhaften Leerstand überflüssig gewordener Gebäude. Wir werden weniger, haben aber eine opulente bauliche Bestandskulisse, die zudem
in hohem Maß von baukulturellem Rang und identitätsstiftender Bedeutung ist. Wir bauen neu, weil der alte Bestand nicht dort ist, wo sich der aktuelle Bedarf zeigt, oder veränderte Bedürfnisse realisiert werden müssen. Der Bahnhof von Apolda soll vor diesem Hintergrund zum Beispiel für das Umprogrammieren von Gebäuden werden; die architektonischen Mittel von „Reduce, Reuse, Recycle“ werden zum Programm des minimalistischen Ressourceneinsatzes und nutzungsneutraler Räume.
In welcher Landschaft wir leben wollen, fragen wir uns gemeinsam mit der Thüringer Landesanstalt für Landwirtschaft mit Blick auf die monofunktionalen Anbauflächen hochindustrialisierter Landwirtschaftsunternehmen. Charakteristisch sind große Schläge, wenige Strukturelemente und eingeschränkte Fruchtfolgen. Wir wollen herausbekommen, wie sich diese ausgeräumten Agrarlandschaften zu einer abwechslungsreichen Kulturlandschaft weiterentwickeln lassen – nicht gegen die Einkommenssituation der Landwirte und ihre Betriebsstrukturen, sondern unter Berücksichtigung dieser Interessen und Bindungen. Die IBA Thüringen fragt also nicht nur, was brauchen die Menschen, was machen wir mit den Siedlungen, sondern auch: Was wollen Feld und Wald, Tiere und Pflanzen?
Was heißt hier gutes Leben? Das Schwarzatal befindet sich in einer Thüringer Region, für die in den kommenden Jahren ein drastischer Bevölkerungsverlust prognostiziert ist. Die Projektidee besteht aus einer Vielzahl von Maßnahmen, die auf die zukünftige Lebensqualität und wirtschaftliche Stabilität  („Enkeltauglichkeit“) für die Region abzielen – begonnen bei regionaler Versorgung und Vermarktung bis zur neuen Gestaltqualität der „Sommerfrischearchitektur“. Neben diesen lebenspraktischen Fragen müssen wir aber auch über das Schwinden von Nutzungen, den Rückgang von Einwohnerzahlen und den Rückzug in der Fläche nachdenken. Vielleicht könnte sich das Schwarzatal zum europa- und weltweit drängenden Thema zur Zukunft der Dörfer zu Wort melden.
Wer ist die Stadt, wer entwickelt die Stadt? Gera, eine Stadt in Schrumpfung und prekären finanziellen Verhältnissen, sucht mit eigenen Kräften nach einem Konzept für die Brachfläche, die sich ganz prominent in der Mitte der Stadt befindet. Die schlechte Nachricht ist: Große Investitionen von außen sind auf absehbare Zeit ebenso wenig wahrscheinlich wie öffentliche Maßnahmen. Die gute Nachricht: Die Bürgerschaft von Gera nimmt ihre Geschicke selbst in die Hand. Wie ist ein zentraler Stadtraum in dieser Situation zu gestalten, wenn die landläufigen Konzepte städtebaulicher Nachverdichtung und Revitalisierung nicht oder nicht schnell aufgehen? Gera nimmt derzeit am Europan-Wettbewerb teil. Wir wünschen uns, dass die Europan-Teilnehmer alle nur denkbaren Formen der Gestaltung und ungewöhnliche Möglichkeiten der Aktivierung dieser Fläche in Betracht ziehen.

Jede IBA lebt von ihren gebauten Ergebnissen. Wird aus jedem IBA-Kandidaten ein IBA-Projekt? Und: Wie viele Projekte braucht es Ihrer Erfahrung nach, um das Motiv einer IBA erlebbar zu machen und Aufmerksamkeit zu generieren?
Jeder Kandidat, der den anspruchsvollen Maßstäben und Kriterien an eine zeitgenössische IBA genügt, kann IBA-Projekt mit der Perspektive der Realisierung werden. Aber ich bin vorsichtig, was Zahlen angeht. Vielleicht ist die Frage auch gar nicht, wie viele Kandidaten es braucht, sondern eher: Wie viel ist nötig? Und: Wie wenig sind genug?

Läuft eine Internationale Bauausstellung mit sehr stark partizipativ orientierten Formaten Gefahr, zu konsensorientiert zu sein? Wie sichern Sie den Anspruch an Innovation?
Das ist eine interessante Frage, die wir kürzlich im Labor des IBA-Netzwerks „IBA meets IBA“ diskutiert haben. Stefan Trüby regte uns an, dem gewandelten Charakter der IBAs nachzuspüren. Sie stünden historisch einerseits als Top-Down-Projekte in autokratischer Tradition. Selbst der große Masterplan für das Hansaviertel zeigt das. Seitdem haben wir einen Wechsel der IBAs erlebt, von großen Architekturausstellungen in den städtebaulichen und regionalen Maßstab. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als das Industriezeitalter zu Ende ging und sein städtebauliches Erbe, seien es nun die gründerzeitlichen Wohn- und Mischgebiete oder die Industriearchitekturen, -infrastrukturen und -landschaften, einer Umdeutung, Umbewertung und Umnutzung anheim fielen. Ein Wechsel auch bei den IBAs: vom Neubau zur Bestandsorientierung, vom Einzelhaus und Ensemble zu ganzen Stadtteilen und regionalen Zusammenhängen. Auftritt Landschaft. Nicht der „Neue Mensch“ sondern ganz konkrete Menschen spielen mit. Die Gebiete werden größer, die Aufgaben komplexer, die Beteiligten zahlreicher, die Interessen vielfältiger. In Thüringen arbeitet die IBA für das ganze Land, das schließt alle Städte und Dörfer, aber auch Landschaften und Infrastrukturen ein. Und die Menschen reden mit und machen mit, sie warten nicht mehr auf eine Beteiligung „on demand“. Das ist ja gerade eine der großen Entwicklungsfragen in den Governance-Strategien und Organisationsstrukturen: Einfach abwarten und weiter machen, wie’s läuft, obwohl alle wissen, dass es nicht so weiterlaufen kann – oder aktiv gestalten, selbst Verantwortung übernehmen, neue Strukturen und Vorgehensweisen finden, ja erfinden? Damit wächst vielleicht die Schwierigkeit für eine IBA, prägnant und signifikant zu sein. Aber anspruchsvoll und innovativ ist das mit Sicherheit.

Wie verstehen Sie Ihre Rolle? Sind Sie Moderatorin eines Prozesses oder Kuratorin mit individuellen programmatischen Setzungen?
„Frühstückst Du noch oder kuratierst du schon?“, fragte Ralf Schlüter 2013 im Kunstmagazin „art“. Das Kuratieren avanciert ja gerade zu einem Zauberwort in allen möglichen Disziplinen und gesellschaftlichen Feldern. Ich verstehe das im Übrigen auch als eine Gegenreaktion auf falsch verstandene Partizipations- und Moderationsprozesse, in der eigene Positionen der Veranstalter bis zur Unkenntlichkeit verschwunden sind. Diesen Wunsch nach „Neutralität“ in den Prozessen habe ich auch in meinem vorangegangen Berufsleben nie so ganz geteilt. Kurz: Ich muss da keine Gegensätze auflösen. Das von Ihnen angedeutete Spannungsfeld zwischen Programm, Projekt und Prozess erlebe ich als Auftrag, die IBAs zwischen Lebenswirklichkeit und internationaler Strahlkraft zu positionieren. Ich erlebe aber auch gerade, dass sich die IBA-Programmatik nicht automatisch aus der Summe der noch so gründlich ausgewählten IBA-Kandidaten ergibt. Internationale Relevanz und Strahlkraft gewinnt eine IBA aber vor allem dann, wenn sie ihre eigenen Botschaften formuliert und diese mit starken Orten, Räumen und Objekten verbindet. Die IBA-Programmatik zu bestimmen und sie als ein leicht zu fassendes IBA-Narrativ zu inszenieren, bleibt eine kuratorische Leistung. Der wahrlich nicht kleine Rest ist Management und Moderation.

Internationalität ist als ein weiteres Wesensmerkmal jeder IBA ins Stammbuch geschrieben. Was macht die IBA Thüringen  international? Wie verstehen Sie den Anspruch an Internationalität?
Internationalität ist zentrales Prinzip der IBAs. Die IBA Thüringen ist bislang noch wenig international aufgestellt. Ich persönlich war in den letzten Monaten vor allem damit beschäftigt, in Thüringen anzukommen. Aber wir ringen seit den Anfängen der IBA-Idee um das schon oben erwähnte Verhältnis zwischen regionaler/lokaler Verankerung sowie Verantwortung und internationaler Strahlkraft. Das „I“ der IBA steht für uns als Synonym für Notwendigkeit, Aktualität und Relevanz dessen, was wir tun sowie für Qualität, ja Exzellenz. Es wird ein Kriterium sein, an dem wir unseren Erfolg messen werden. Daraus folgert, dass wir Internationalität in unserer Arbeit einen viel größeren Stellenwert einräumen werden. Da gibt es vielfache Anknüpfungspunkte, zum Beispiel Partnerregionen und Partnerstädte, das weltweite Netzwerk der Goethe-Institute, die Universitäten und Hochschulen des Landes. Im Übrigen sind die IBAs mit Basel und der IBA Parkstad in den Niederlanden selbst inzwischen ein internationales Format.

Mit der Ausstellung „STADTLAND“ möchten Sie einen anderen Blick auf Thüringen werfen. Was ist damit gemeint?
In ihrer ersten Ausstellung untersucht die IBA Thüringen die lokalen Veränderungen und globalen Abhängigkeiten von Stadt und Land. Der demografische Wandel und sozio-kulturelle Veränderungen, die Digitalisierung und der ökonomische Strukturwandel in seinen globalen Vernetzungen, der Klimawandel und die Energiewende setzen Thüringen unter Veränderungsdruck. Die Ausstellung „STADTLAND“ beschreibt den Freistaat Thüringen in einem Zustand von allmählichen Wandlungsprozessen und heftigen, schnellen Veränderungen. Gezeigt werden etwa zwanzig „STADTLANDGeschichten“ von Thüringern, die auf diesen Wandel reagieren oder ihn gar selbst herbeiführen. Außerdem werden die sechzehn IBA-Kandidaten vorgestellt, die im Rahmen des ersten IBA-Projektaufrufs im Herbst 2014 nominiert wurden. Für diese erste Ausstellung – es folgen 2019 eine IBA-Werkschau und 2023 das IBA-Finale – gestatten wir uns, überwiegend Fragen zu stellen: Was bedeutet es, wenn die Scheune zur Kulturoase wird, die Stadt zum Produzenten von Lebensmitteln, oder Megabytes die PS ersetzen, wenn der italienische Mozzarella aus Thüringen kommt oder ein Dorf zum Technologieführer wird? Was ist in Zeiten der Urbanisierung von Lebensstilen und der Globalisierung von Produktion eigentlich noch Stadt und was ist Land? Welche Grenzen, aber auch welche neuen Verbindungen zwischen Stadt und Dorf, Siedlung und Landschaft lassen sich aus diesen Veränderungen ablesen? Und was bedeutet es für die zukünftige Entwicklung von Raum, wenn die Menschen weniger und älter werden und das Feld mehr wert ist als das Haus? Die Ausstellung versteht sich als Einladung zum Gespräch, das wir in einem umfangreichen Begleitprogramm führen wollen.

Was wäre Ihr dringlichster Wunsch für den weiteren IBA-Prozess?
Dass die Ausstellung ein Erfolg wird, und die Thüringer und ihre Gäste das Angebot zum „anders auf dieses Land schauen“ annehmen. Und: Dass wir am Ende der Ausstellung mehr wissen als vorher.

Frau Dr. Doehler-Behzadi, wir danken Ihnen für das interessante Gespräch und wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg.

(Anm. d. Red.: Infolge des tragischen Brandes in der Weimarer Viehauktionshalle in der Nacht vom 21. auf den 22. April 2015 wurde die Ausstellung abgesagt.)

veröffentlicht am 04.05.2015 von Björn Radermacher · Rubrik(en): News, IBA Thüringen

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