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Prof. Gerd Zimmermann: Shrinking Cities

Rede zur Vernissage der Ausstellung "Erfurts Lücken locken" der Stiftung Baukultur

Shrinking Cities, schrumpfende Städte, ist ein Begriff, der Karriere macht.

Und die Lücke, um die es als Thema in dieser Ausstellung geht, ist doch auch ein Schrumpfen. Nach dem Synonymwörterbuch ist die Lücke „eine leere Stelle“, „Zwischenraum“, „Bresche“, auch „Spalt“. Die Lücke mithin ist ein Nichts, wo etwas anderes war, also ein Schrumpfen. Aber Lücken sind eben auch Orte, an denen Neues entstehen kann. Und darum dreht sich diese Ausstellung.

Sprechen wir also über Shrinking Cities.

1961 erschien Jane Jacobs Buch „The death and life of great American cities“, 1963 die deutsche Übersetzung „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“. Jane Jacobs Buch war eine frühe und ebenso unmissverständliche Kritik am modernistischen Städtebau, der „ville radieuse“ und den CIAM-Konzepten, welche die Segmentierung der gewachsenen, lebendigen Stadt betrieben. Es war aber auch ein Blick auf die (Mega-) Stadt als eines Organismus, dessen Teile werden und vergehen, wo Stadtviertel verfallen, wieder andere im Kommen sind und noch andere boomen. Was wir hieran unschwer erkennen ist, dass die Stadt ein Prozess ist, dynamisch, nicht statisch. Erkennbar ist dies nicht nur an Megacities, sondern auch an einer Stadt wie Erfurt. Deshalb sprechen ja die Immobilienhändler, wenn es um die Rendite geht, hauptsächlich von einem: Lage, Lage, Lage! Befindet sich mein Renditeobjekt im „hochpreisigen“, im aufstrebenden Sektor oder nicht?

Was für den Organismus der Megacity gilt, gilt auch für Städte untereinander, für das Gefüge der menschlichen Siedlungen: sie schrumpfen oder sie wachsen. Shanghai wächst (vertikal wie horizontal), Detroit schrumpft. Es ist unmittelbar einsichtig, dass diese Stadtbewegung Reflex der wirtschaftlichen Entwicklung ist. Detroit war einst die boomende Automobilstadt, mit dem Niedergang von General Motors jedoch wird sie zum urbanen Problemfall: Desurbanisierung, Verfall des Stadtzentrums sind die Folgen. Das Gegenteil natürlich können wir in der Boomstadt Shanghai beobachten, einen nahezu explosionsartigen, beinahe wahnwitzigen Prozess der Urbanisierung im Gefolge des gigantischen Wirtschaftsbooms, damit einhergehende Landarmut, Landflucht, Proletarisierung usw.

Und selbstverständlich Ostdeutschland, wo wir sind: nach dem Bau- und Infrastrukturboom der frühen 90er Jahre, den Jahren der visionierten blühenden Landschaften, schlägt das Pendel zurück. Die Wirtschaftsflaute, daraus folgende Arbeitslosigkeit und Abwanderung produzieren wie die Demografie der Überalterung eine Krise, die sich im Phänomen der schrumpfenden Stadt niederschlägt. Die Frage ist nicht mehr, neue Städte zu bauen. Die Frage ist nicht mehr, Städte zu erweitern, die Frage ist, die Stadt so zurück zu bauen, dass trotz des quantitativen Rückgangs neue Qualitäten, also Stadtqualitäten, Lebensqualitäten sogar geschaffen werden können. Wie ist das denkbar, dieses „less is more“?

Ich selbst, meine Damen und Herren, gehöre nicht zu jenen, die sich hier irgendeine Art von Entschleunigung, von laissez faire, oder ähnliches vorstellen wollen. Ich glaube auch nicht, dass wir es primär mit einem Problem der Verteilung zu tun haben. Mit dem Verfahren der Gießkanne ist hier überhaupt nichts zu machen. Für die Stadtentwicklung und die Entwicklung der Regionen würde das ja bedeuten, alle Städte und Landschaften gleich, zumindest in die gleiche Richtung zu entwickeln. Uns allen dürfte klar sein, dass dies der falsche Weg ist. Es wird vielmehr in allen Feldern darauf ankommen, die schrumpfenden Mittel sehr gezielt und überlegt zu konzentrieren und derart einen intelligenten und kreativen Umgang mit der neuen Lage zu erreichen, im Kern eine klare Steigerung der Produktivität.

Wir müssen demzufolge zwei Bewegungen ins Auge fassen:

Einerseits, den intensiven Ausbau einiger, wahrscheinlich weniger Entwicklungskerne, deren Produktivität vornehmlich aus der Verknüpfung von Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur erwächst

Andererseits, den intelligenten Rückbau anderer Orte

Ein mittlerweile weltweit präsentiertes Beispiel für den intelligenten Rückbau in einer schrumpfenden Stadt gibt uns Leinefelde. Ein Beispiel – sie sehen mir nach, dass ich dieses wähle – für eine wachsende Stadt gibt uns Weimar und darin als Fall intensiver Stadtentwicklung das Projekt „Neues Bauen am Horn“. Wenn ich richtig informiert bin, dann ist tatsächlich Weimar die einzige wachsende Stadt in ganz Ostdeutschland. Ein Wachstum, das auf Studenten basiert, welche die Zweitwohnsitzsteuer sparen, auf einer Klientel von Leuten, die Weimar als Wohnort bevorzugen, obgleich sie in Erfurt, Jena oder anderswo arbeiten und auf Pensionären, welche die Kultur und die Beschaulichkeit schätzen.

Ganz anders ist es natürlich in – sagen wir – Sangerhausen. Sangerhausen hat, hauptsächlich im Gefolge des Niedergangs des Bergbaus in den letzten 14 Jahren ca. 1/3 seiner Bevölkerung verloren, dabei natürlich vor allem die mobilen und die jungen Leute. Es ist hier überhaupt nicht einfach, sich ein Szenario vorzustellen, dass mit dem Begriff „Stadtentwicklung“ versehen werden könnte. Dies ist, bei allen Unterschieden, jene desaströse Lage, in der sich Detroit vor einigen Jahren befand: der Niedergang einer monokulturellen Schlüsselindustrie zieht den Niedergang der Stadt nach sich.

Mancher erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass die Geschichte immer schon den Fall kannte, dass Siedlungen verlassen werden, aufgegeben werden, wüst werden und verschwinden. Denken wir nur an den Goldrausch und die Geisterstädte, die von ihm geblieben sind. Hausforscher und Bodenarchäologen wissen, dass Konzentrationsprozesse bei Siedlungen auf der anderen Seite zu Wüstungen führten. Dies war in der Geschichte Thüringens zahllos der Fall. Sangerhausen wir sich vermutlich erholen, manches Dorf in der Uckermark aber vielleicht nicht. Es wird versinken in den Tiefen der Geschichte.

Im Übrigen können wir interessante Funktionswandlungen von Städten beobachten. Vieles etwa in den herrlichen Städten der Toskana funktioniert auch nur noch als eine Inszenierung für den globalen Touristen. Der (heutige) Zweck der Geschlechtertürme in San Gimignano, dieses Manhattan des Mittelalters, wie auch vieler einfach leer stehender Palazzi dort ist nur die Touristenkulisse und sonst nichts. Ob dies für Sangerhausen geht, darf man bezweifeln, schon wegen des leider fehlenden Weines. Für Bad Sulza, der selbst erklärten „Toskana des Ostens“, kann das Konzept der Touristenstadt bzw. -region in der nachgespielten Toskana vielleicht funktionieren, die Saale als Arno, die Pappel als Zypresse, der Unstrutwein als Chianti.

Aus diesem – wie ich immer fand – vielleicht etwas naiven, aber ambitionierten Projekt der Ost-Toskana können wir etwas wichtiges ersehen, dass nämlich die spezifische Produktivität von Städten heute nicht mehr provinziell eingelöst werden kann, sondern europäisch und global. Und da genügt es auch nicht, Thüringen vordergründig als Land von Wurst und Wald zu vermarkten. Beides haben andere auch, und Provinzialismus ist in der globalisierten Welt kein guter Ratgeber.

Zukunft haben Städte und Regionen auch in Thüringen, wenn sie dominante Orte der Wissensgesellschaft sind oder werden, Orte weltweit wettbewerbsfähiger Forschung, Wissenschaft, Kunst und einer damit verknüpften Wirtschaft – wie einst im Silicon Valley. Darauf muss man setzen, und hier bin ich gegen jegliche Art von Schrumpfung. Der entscheidende Paradigmenwechsel ist eben nicht jener vom Wachstum hin zur Schrumpfung, sondern jener vom extensiven Wachstumstyp der Industriegesellschaft hin zu dem intensiven Wachstumstyp der postindustriellen Wissensgesellschaft. Und dies gilt angesichts der Ressourcenlage vor allem auch für Deutschland.

Shrinking Cities intelligent zu behandeln ist ohne Zweifel nötig, entscheidend aber wird sein, Growing Cities zu schaffen und sich der Mentalität des Rückfalls entgegenzustellen. So verstanden ist Schrumpf nicht Trumpf, wie eine modische Redensart uns weismachen will. Es geht natürlich um Wachstum, allerdings qualitatives und nicht simpel quantitatives Wachstum. Und dabei spielt die Verschränkung von Universität respektive Bildung einerseits und der Industrie andererseits die herausragende Rolle, folgerichtig auch die Universitätsstädte, welche in Thüringen Jena, Weimar, Erfurt und Ilmenau heißen.

Baukultur heute sollte bedeuten, Modelle und Phantasien für diesen Produktivitätstypus der intelligenzintensiven Produktion zu entwerfen.

Die hier zu eröffnende Ausstellung „Erfurts Lücken locken“ will eben dazu beitragen, Impulse geben für den offenen Umgang mit offenen Fragen. Wir brauchen ihn, den Mut zur Lücke.

Ich danke allen Architekten, Planern, der Stadt Erfurt dafür, dass sie hier Vorschläge machen, leider sind es nur wenige. Herr Michael Beier danke ich für die Initiative zu dieser Ausstellung der Stiftung Baukultur..... und Ihnen für Ihre freundliche Aufmerksamkeit.
Vielleicht sollte wieder ein Buch geschrieben werden, wie es einst Jane Jacobs für Amerika tat, „Leben und Tod (ost-) deutscher Städte“.

veröffentlicht am 10.08.2005 von Birgit Kohlhaas · Rubrik(en): News, Stiftung Baukultur Thüringen

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